Die Journalistin Elisabeth Bardill-Meyer aus Tenna im Safiental hat mir die Erlaubnis gegeben, ihre Buchbesprechungen hier abzudrucken. Ganz herzlichen Dank!


Besprechungungen für Sie:
Cimen Özlem, Babas Schweigen
Martin Becker, Die Arbeiter


Cimen Özlem, Babas Schweigen
Limmat Verlag
114 Seiten Fr. 30.00 Bitte mit Mail bestellen

Schweigen über die Vergangenheit

Babas Schweigen, der Titel der Erzählung von Özlem Çimen, berührt Menschen in einem Dorf, wo man seit Generationen über die Geschichte schweigt. Die Protagonistin, ja die Autorin, brauchte Zeit, um ihren Vater Baba darüber zu fragen. Eine dunkle spürbare Ahnung lag schwer in der Luft. Als kleines Mädchen fuhr Özlem, die in der Schweiz aufgewachsen war, in den Ferien mit den Eltern zu den Grosseltern nach Anatolien. Das war in den Neunzigerjahren. Viele Verwandte erwarteten die Feriengäste zuhause im Dorf. Gründe zum Feiern gab es viele. Özlem spielte mit all den vielen Kindern. Die Einheimischen kannten jeden Winkel in Dorf und Feld. Niemals ist jemandem etwas zugestossen. Es gab aber viele Geschichten, die vor Gefahren beschützen sollten. Gut zwanzig Jahre später fährt Özlem mit ihrem Mann und ihren kleinen Töchtern wieder aus der Innerschweiz ins türkische Dorf. Als erwachsene Frau hat sie eine deutlichere Wahrnehmung und möchte mehr über die Vergangenheit und Familiengeschichte erfahren. Die seltsame Sprache Zazaki und die neue Offenheit ihres Vaters führen sie vage an den Ursprung ihrer Vorfahren heran. Baba sagt anfangs zu seiner Tochter: «Ja, wer interessiert sich für uns? Wenn ihr gefragt werdet, wer ihr seid, sagt einfach, dass ihr türkisch seid.» Wie gibt man Geschichte mit Grausamkeiten an die nächste Generation weiter, wenn darüber wenig dokumentiert ist? Dass darin die eigene Geschichte vorkommt, macht die Sache noch viel schwieriger. Özlem forscht weiter. – Zu Beginn des 20. Jahrhunderts begannen die Vertreibungen und Massaker an den Armeniern im ganzen Land. Deportationen in die Westtürkei, das Verbot der zazaischen Sprache und eine strenge Assimilationspolitik hat ihre Folgen bis in die Gegenwart. – Das Buch in Romanform ist der unbeschwerten Kindheit wie dem Forschen nach eigenen Wurzeln gewidmet.

Die Autorin, geb. 1981, lebt mit ihrer Familie in Zug und ist als Heilpädagogin im Kanton Luzern tätig.

Empfohlen von Elisabeth Bardill
Tenna, 24. März 2024


Martin Becker,
die Arbeiter
Luchterhand Verlag

301 Seiten Fr. 30.50 Bitte mit Mail bestellen


Denkmal für eine verschwundene Arbeiterfamilie


«Eine Familie aus der Vergangenheit. Aus der Kleinstadt, aus dem Reihenhaus. Das nie uns gehört. Wie alles. Ohne Geld mit geringer Lebenserwartung. Arbeit taktet die Tage durch, bis sie stottern, bis sie gezählt sind.» Martin Beckers Erzählung ist eine Liebeserklärung an ein aussterbendes Milieu, das es in dieser Form nicht mehr gibt. Seine Erinnerungen gehen in die Achtziger- und Neunzigerjahre zurück und reichen bis an die Gegenwart heran. Eine Arbeiterfamilie, die sich kleine Freuden leisten kann: kalorienreiche, kräftige Nahrung, Zigaretten, Cola-Getränk und einige Tage Ferien an der Nordsee. Das Auto ist aus dritter Hand und rostig. Der Vater arbeitet im Bergbau, die Mutter als Schneiderin zuhause. Der Wunsch, eine Familie zu haben, hat sich erfüllt. Ein Lottogewinn bleibt ein Traum aber man ist einigermassen zufrieden.
Den Roman liest man als Autobiografie. Das Zeitgeschehen wird wie nebenbei eingewoben. Die Mutter hört Heintje vom Kassettenrekorder singen. Es kommen ihr die Tränen. Sie blättert am Küchentisch im Quelle-Versandkatalog mit Sammelbestellrabatt. Helmut Kohl wird Bundeskanzler, in Tschernobyl explodiert ein Atomreaktor, die Mauer zur DDR fällt. Die Familie schlägt sich durch, bezahlt regelmässig den hohen Zins für’s Reihenhaus. Martin Becker schildert schlicht und schnörkellos über das Leben und Sterben einer Gesellschaftsgruppe, die nicht in Armut lebt, sich nichts vormacht, da sie sich von Tag zu Tag auf das Wesentlich konzentriert. Mut und Wehmut, Freude und Verlust, Geborgenheit in der Kindheit und kritisches Denken im Erwachsenenleben sind wirklichkeitsnah dargestellt. Sie werfen ein Licht auf Menschen, die ihre Geschichte nicht aufarbeiteten, keine Bücher lasen, sich nicht politisch engagierten. In deren kurzen Lebensdauer wegen gesundheitlicher Schäden, wäre das gar nicht möglich gewesen.
Der Autor Martin Becker, geboren 1982 in der deutschen Kleinstadt Plettenberg im Sauerland, hat es stellvertretend übernommen, diesen Leuten eine Stimme zu geben. Er kommt selber aus der Arbeiterklasse. Heute lebt er mit seiner Familie in Halle an der Saale. Er schreibt Bücher und berichtet in Reportagen für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk.

Empfohlen von Elisabeth Bardill
Tenna, 17. März 2024





Elisabeth Bardill

Elisabeth Bardill-Meyer kam 1941 im aargauischen Auenstein zur Welt und wuchs danach in Küsnacht am Zürichsee auf. Nach der Ausbildung zur Kindergärtnerin an der Neuen Mädchenschule Bern war sie in Bubendorf BL tätig. Nach der Heirat mit einem Bündner Lehrer zog sie nach Tenna ins Safiental und später nach Schiers. Sie hat vier Söhne und fünfzehn Enkel. Während vieler Jahre unterrichtete sie im Bildungszentrum Palottis Schiers in den Fächern Erziehungslehre, Werken und Gestalten. Seit 2004 lebt Elisabeth Bardill mit ihrem Mann wieder in Tenna. Sie arbeitet freischaffend journalistisch für Zeitschriften, Zeitungen wie auch regelmässig für die „Terra Grischuna“, schreibt Bücher und gibt diese selber unter „edition bardill“ heraus. Es handelt sich stets um Porträts von Menschen in Graubünden.



Elisabeth Bardill, Männer und Frauen verwurzelt in Graubünden

Edition Bardill
Fr. 30.00 bitte mit Mail bestellen



Elisabeth Bardill, Bauernstolz und Bauerntum
Edition Bardill, 2008 Fr. 35.00 bitte mit Mail bestellen

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