In meinem Januar-Buchtipp erzählt die in Zürich geborene Anna Ruchat über das lange Warten auf ihren Vater, der 1960 als Militärpilot tödlich verunglückte. "Schattenflug" hat mir sehr gefallen.


Anna Ruchat, Schattenflug
Limmat Verlag
96 Seiten Fr. 26.80 bitte mit Mail bestellen

Anna Ruchat war zehn Monate alt, als 1960 ihr Vater mit seinem Militärjet auf dem Flugplatz Meiringen tödlich verunglückte. Sie hat in ihrem Buch "Schattenflug" die Ereignisse von drei Ausgangspunkten beleuchtet - wie eine Art Triptychon. Zuerst erzählt sie die Sichtweise des kleinen Mädchens, das immer auf seinen Vater wartet. Im Mittelteil schildert sie die imaginäre Vorstellung ihres Vaters auf seinem letzten Flug. 2001 sendet ihr der Onkel alle Dokumente des Flugunfalles und viele weitere persönliche Sachen. Ihr Vater beginnt Konturen anzunehmen. Viele weitere Nachforschungen im Bundesarchiv ergeben aus vielen kleinen Puzzleteilchen das Bild eines Menschen aus Fleisch und Blut. So hat das lange Warten auf ihren Vater endlich ein Ende gefunden. Das dünne Bändchen erzählt aus der Distanz diese tragische Geschichte ohne Pathos.

Textprobe:
53 Sekunden vom Moment an, als du den Stillstand des Triebwerks bemerkt hast, und dem Aufprall am Boden. Warst du in jenen 53 Sekunden wirklich auf konkrete Lösungen konzentriert? Und die Warnsignale, hattest du sie unter Kontrolle? Wie viele Militärpiloten sind in der Schweiz in jenem Jahr abgestürzt? Sieben. Du hattest versprochen zurückzukommen. Du hattest versprochen, mit dem Kind auf den Spielplatz zu gehen, während sie sich auf ihr Diplom vorbereitet. Um dann mit ihr wegzuziehen, und dem Kind. Elfenbeinküste, hattet ihr entschieden. Du hattest ihr weitere Kinder versprochen, viele Kinder. Aber da liegen 53 Sekunden zwischen dir und künftigen Kindern, zwischen dir und dem kleinen Kind, zwischen dir und Afrika, zwischen dir und Gérard de Nerval und Albert Camus, zwischen dir und Bachs 51. Kantate, zwischen dir und Toledo und Salamanca, zwischen dir und der Agenda von 1959 und von 1961. Meiringen, der Kanton Bern, das Land deiner Mutter unter deinen Füßen – unter deinen Augen. Wie viel Zeit liegt in den 53 Sekunden, die dich von der Erde trennen? 53 Sekunden, sechs Kilometer von der Piste entfernt, und bereits ohne Funkkontakt. Eine kurze Vergangenheit und eine Zukunft, die heute immer noch anhält, dort ist alles verdichtet, in jenen 53 Sekunden; 53 Sekunden, ausgedehnt in eine endlose Zeit, eine Zeit, die unwichtig wäre, wäre da nicht diese geringe Distanz zum Boden.


Anna Ruchat, 1959 in Zürich geboren, im Tessin und in Rom aufgewachsen, studierte Philosophie und deutsche Literatur in Pavia und Zürich. Langjährige Tätigkeit als Übersetzerin u. a. von Thomas Bernhard, Paul Celan, Nelly Sachs, Friedrich Dürrenmatt, Viktor Klemperer, Mariella Mehr, Kathrin Schmidt und Norbert Gstrein. Für ihr Erzähldebut «Die beiden Türen der Welt» erhielt sie in Italien den Publikumspreis Premio Chiara und in der Schweiz den Schillerpreis. Sie unterrichtet an der Europäischen Übersetzerschule in Mailand. Seit 2002 verwaltet sie das Archiv Franco Beltrametti. Anna Ruchat lebt in Pavia.

Archiv: Mein Buchtipp
Januar 2007: Urs Faes, Liebesarchiv
Februar 2007:Lukas Hartmann, Die letzte Nacht der alten Zeit
März 2007: Mohsin Hamid, Der Fundamentalist, der keiner sein wollte
April 2007: Elke Heidenreich, Mit unseren Augen
Mai 2007: Banana Yoshimoto, Federkleid
Juni 2007: Rachel Seiffert, Danach
Juli 2007: Dorner, Die letzte Liebe des Monsieur Armand
August 2007: Peter Goldsworthy, Maestro
Oktober 2007: Zurhorst, Liebe Dich selbst und freue Dich auf die nächste Krise
November 2007: Ursula Markus/Paula Lanfranconi, Schöne Aussichten
Dezember 2007: André Gorz, Brief an D
Januar 2008: Kakar, die Frau, die Gandhi liebte
Februar 2008: Ein perfektes Wochenende in Zürich
März 2008: Good/ Hutzl-Ronge, Magische Schweiz - Wanderungen zu Orten der Kraft
April 2008: Angelika Waldis, Die geheimen Leben der Schneiderin
Mai 2008: Die Welt in atemberaubenden Bildern. Best of National Geographic
Juni 2008: Konstanze von Schulthess, Nina Schenk Gräfin von Stauffenberg. Ein Portrait
Juli 2008: Paul Gayler, Fingerfood für Geniesser
August 2008: Francesc Miralles, Samuel und die Liebe zu den kleinen Dingen
September 2008: Brigitte Giraud, Die Liebe ist doch sehr überschätzt
Oktober 2008: Christian Haller, Im Park
November 2008: Renan Demirkan, Septembertee
Dezember 2008: Paul Wittwer, Giftnapf
März 2009: Helen Garner, Das Zimmer

April 2009: Klara Obermüller, Schwarz auf Weiss
Mai 2009: Sarah Kuttner, Mängelexemplar
Juni 2009: Walter, Das dreifarbene Meer
Juli 2009: Fabio Volo, einfach losfahren
August 2009: Wo liegt der Himmel auf Erden
September 2009: Hugo Loetscher, die Kranzflechterin
Oktober 2009: Assia Djebar, Nirgendwo im Hause meines Vaters
November 2009: Donna Hay, Keine Zeit zum Kochen
Dezember 2009: Jürg Amann, Kalabrische Hochzeit
Januar 2010: Tatiana de Rosnay, Bumerang
Februar 2010: Ivin D. Yalom, das menschliche Herz
April 2010: Angelika Waldis, Einer zu viel
Juli 2010: Die ganze Welt noch immer da
August 2010: Kawakami, am Meer ist es wärmer
September 2010: Thomas Hettche, Die Liebe der Väter
Oktober 2010: Donna Hay, Jahreszeiten
November 2010: Sabina Altermatt, Fallhöhe
Dezember 2010: Edzward Schaper, Die Legende vom vierten König
Februar 2011: Tiziano Terzani, Das Ende ist mein Anfang
März 2011: Rivera Letelier, die Filmerzählerin
April 2011: Yusuf Yesiloez, Hochzeitsflug
Juni 2011: Master Han Shan, wer loslässt hat zwei Hände frei
Juli 2011: Fabio Volo, Noch ein Tag und eine Nacht
August 2011: Aly Cha, Schnee im April
September 2011: Kethevane Davrichewy, Am schwarzen Meer
November 2011: Erri De Luca, Das Gewicht des Schmetterlings
Dezember 2011: Pia Soler, Die Weite fühlen
Februar 2011: Pauer, wir haben keine Angst
März 2012:
Hernan Rivera Letelier, Der Traumkicker
April 2012; Chahdortt Djavann, Die Stumme
Mai 2012: Lisa Maria Seydlitz, Sommertöchter
Juni 2012: Patricia Schultz, 1000 places to see beforde you die
Juli 2012: Michelle Obama, American Grow

August 2012: DeLuca, Montedidio
September 2012: Alain Cl. Sulzer, Aus den Fugen geraten
November 2012: Otsuka, Wovon wir träumten



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