Persönlicher Tipp von Bernhard Gurtner, Wetzikon

Günther Anders, die Antiquiertheit des Menschen. Teil l: Ueber die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution
   
C.H. Beck 2.Aufl. 2002
353 Seiten Fr. 22.60

Der Verlust gemeinsamer Werte hat in der postmodernen Gesellschaft einen grossen Bedarf an sinnstiftenden Deutungen der persönlichen Existenz und des Weltgeschehens ausgelöst. Diese Nachfrage bringt philosophische Bücher auf die Bestsellerlisten, von denen viele nach wenigen Seiten ungelesen bleiben, weil der akademische Fachjargon nicht verständlich ist. Andere Titel versprechen Anworten und Lösungen, die im Text zu banal dargestellt werden, um den Wissensdurst der Lesenden nachhaltig zu stillen. Doch es gab (unter anderen) einen originellen Denker, welcher konzentrierten Inhalt in lockerer Form zu vermitteln wusste:

Vor 100 Jahren wurde Günther Anders (Günther Stern) geboren, der als ein bei Husserl und Heidegger geschulter Philosoph ganz bewusst einen journalistisch gefärbten Stil pflegte, um tiefsinnige Erkenntnisse über die akademischen Kreise hinaus zu verbreiten. Das hat ihm bei Fachkollegen hämische Kritik eingebracht, doch gelangten so seine aufwühlenden Thesen in die öffentliche Diskussion. Wie vorausschauend Günther Anders die atomare Bedrohung, unsere Entmündigung durch die Technik, den Umgang mit Gewalt und die manipulierte Darstellung der Welt in den Medien schon 1956 analysiert hat, ist auch heute noch sehr aktuell und faszinierend zu lesen. Wer es geniesst, messerscharf logischen Gedankengängen zu folgen und wer sich durch paradoxe Behauptungen oder Wortspiele animieren lässt, wird in diesem neu aufgelegten Buch viele freudige Aha-Erkenntnisse gewinnen, obwohl der Grundton des vor einer "Welt ohne Menschen" warnenden Kulturkritikers sehr pessimistisch ist. Er will nach eigenem Geständnis durch Übertreibungen zum Umdenken anregen. Neben- bei findet sich in dem Buch eine hochinteressante Deutung von Becketts "Warten auf Godot", die vieles aufdeckt, was man als Zuschauer vielleicht übersehen hat.

 


Archiv

Juni 2002 Enrico Danieli

Juli 2002 Bernhard Gurtner

August 2002 Erhard Taverna

September 2002 Hansruedi Gehring

OBEN