Das besondere Buch von Martin Widmer, Autor und Historiker Wald

Michael Wallner, April in Paris Fr. 35.--

Im April bin ich nach Paris gefahren, und so sprang mir der Buchtitel im Vorfeld in die Augen. Es ist eine Einstimmung der besonderen Art. Kein Reiseführer, kein Krimi und keine Liebesgeschichte im frühlingshaften Paris. "April in Paris" ist eine Kriegsgeschichte und ist doch keine. Oder alles in einem?

Die Geschichte spielt in den Jahren 1943 und 1944, in einem Paris mit nächtlicher Ausgangssperre für die Bewohner der Stadt. Unterwegs sind nachts nur die Besetzer mit ihren französischen Begleiterinnen. Und der 22jährige Obergefreite Roth der Wehrmacht. Doch er lässt sich auf ein gefährliches Spiel ein, das ihm das Genick brechen kann. Nach Dienstschluss, er arbeitet als Übersetzer für die deutsche Geheimpolizei, zieht er in einem von Bomben zerstörten Haus seine Uniform aus, versteckt sie unter einer Treppe, schlüpft in einen kleinkarierten Strassenanzug und verlässt die Ruine als Monsieur Antoine, als Buchhändlergehilfe: "Als ein anderer betrat ich die Strasse. Jedes Privileg hatte ich abgetan, war schutzlos gegen Besatzer und Besetzte. Ich durfte meine Papiere nicht zeigen, meine Sprache nicht sprechen, eine falsche Vokabel verriet mich. Spätestens um Halb acht musste ich die Rückverwandlung vollziehen, doch die Uhr, Erbstück mit deutscher Gravur, nahm ich nicht mit."

Der Obergefreite Roth wollte schweigen, Monsieur Antoine sich unterhalten. Beim Kaffee Trinken, beim Stöbern im Buchladen und beim Haare schneiden gibt er sich wortgewandt als Franzose vom Land aus. Dabei lernt er Chantal, die Coiffeuse und Tochter des Buchhändlers kennen. Sie weiss nicht, dass er kein harmloser Franzose ist, sondern ein Repräsentant der Besetzungsmacht, ein "boche". Und Roth weiss nicht, dass Chantal, der Friseur und der Buchhändler für die Resistance arbeiten. Als die Tarnung zwischen ihnen fällt, ist es zu spät, denn Roth und Chantal haben sich leidenschaftlich ineinander verliebt. Die Geschichte und der Krieg nehmen ihren Lauf, der Strudel der Ereignisse zieht sie in die Tiefe.

Die Geschichte läuft unheimlich schnell, dann scheint sie manchmal still zu stehen, dass es kaum zum Aushalten ist. Der Erzähler nimmt einem mit durch ein Paris der Nachtclubs und einsamen Strassen, in die Keller des Widerstands und die Verhörlokale der Gemeinpolizei, in die leerstehende Wohnung eines reichen Münchners und ins Hotelzimmer Roths. Für die Liebe bleibt nicht viel Platz und noch weniger Zeit.

"Avril prochain - je reviens", diesen Refrain eines Schlagers von Maurice Chevalier hat der Erzähler immer im Ohr. "April in Paris" ist eine Liebesgeschichte, die sich verflüchtigt und die Liebe mit wenigen Worten festhält. Und so gelingt es dem Erzähler auch, die Zeit vor dem Ende des Krieges in Bildern festzuhalten, ohne dokumentarischen Charakter beanspruchen zu wollen. Wie es damals in Paris gewesen ist, habe ich als Leser nur am Rand erfahren. Und doch bin ich mit einem Bild von Paris in die französische Hauptstadt gefahren, dass so viel lebendiger ist als alles, was mir im Vorfeld unter die Augen gekommen ist.
Martin Widmer Wald


Martin Widmer ist der Autor der beiden folgenden Bücher:

www.martinwidmer.ch

Martin Widmer, Krawattenende. Die Geschichte des Createurs Alfred Bruder und seiner Cravatex AG 1954 - 1975
Limmat Verlag 2004
227 Seiten, Abb. Fr. 38.--
1954 gründet Alfred Bruder mit 2000 Franken eine Firma zur Herstellung von Krawattenstoff. Mit Stoffen aus Nylon und Helanca fordert er die traditionsreichen Seidenstoffwebereien Zürichs heraus und ist Europas Modeschöpfern oftmals eine Nasenlänge voraus. Die gewobenen Polyesterstoffe der Cravatex erleben einen Höhepunkt, als die Krawatten Ende der 1960er-Jahre breiter werden und damit Platz für wilde Muster bieten. Die Gefahr, dass der Rollkragen und die 1968er-Bewegung das schmale Stück Stoff der Männermode zum Verschwinden bringen, ist fürs Erste gebannt. Doch 1974 sieht Bruder das Ende der Krawat- tenkultur kommen und liquidiert seine Firma kurz nach der Ölkrise. Martin Widmer liess sich von Bruder, der heute teils in Kanada, teils im Tessin lebt, seine Geschichte erzählen. Entstanden ist ein Porträt eines risikofreudigen Kleinunternehmers, der sich von ganz unten hochgearbeitet hat. Und erzählt wird die Geschichte dieses prominenten Stücks Stoff in einer turbulenten Phase.

Martin Widmer, Sieben x Seide. Die Zürcherische Seidenindustrie 1954 - 2003. Hrsg. von der Zürcherischen Seidenindustrie - Gesellschaft
bitte mit Mail bestellen  
Verlag Hier & Jetzt 2004
192 Seiten, 50 farbige und 30 schwarzweisse Abbildungen Fr. 48.--
Sieben Reportagen führen zu den letzten Unter- nehmen der Zürcherischen Seidenindustrie. Zeitzeugenberichte und historisches Bild- material veranschaulichen deren Geschichte von den 1950er- bis zu den 1990er-Jahren. Ein Besuch in einem Atelier und Stoffarchiv zeigt den Wandel der Haute Couture; ein Gang durch stille Fabrikhallen einer soeben geschlossenen Seidenfärberei vermittelt das melancholische Bild eines endgültigen Abschieds. Die Hintergrundberichte zu den sieben Repor- tagen beleuchten den Niedergang der Zürcher- ischen Seidenindustrie, stellen aber auch jene Unternehmen dar, die überlebt haben. Wie sind sie beispielsweise mit dem Übergang vom Rohmaterial Seide zu synthetischen Fasern in den 1950er-Jahren umgegangen? Oder mit der grossen Personalknappheit in den 1960er-Jahren? Eingestreute Geschichten, von der letzten Direktorin einer Krawattenstoffweberei etwa, runden das Bild ab.


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